Was ist eine
neuropsychologische Therapie?
Infolge einer Hirnschädigung kann es zu Störungen von
Hirnfunktionen kommen, je nachdem welche Regionen im Gehirn davon betroffen
worden sind. Hierzu gehören u. a. Störungen der Sprache, des Gedächtnisses, der
Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung (z. B. Sehen und Hören), der Raumorientierung
oder des Problemlösens.
Eine neuropsychologische Therapie ist eine Psychotherapie, die
Patienten mit solchen Störungen unterstützt, diese Störungen abzumildern. Darüber
hinaus hilft sie ihnen auch dabei, sich selbst mit den evtl. verbleibenden
Defiziten wieder annehmen zu können und sich wieder in ihre berufliche und
soziale Umgebung einzupassen. Allgemeine und individuelle neuropsychologische Gegebenheiten
müssen dabei berücksichtigt werden. Ebenso spielen aktuelle und vorbestehende psychische
Konflikte in die Behandlung hinein und müssen aufgegriffen werden.
Das allgemeine Wissen: klinische Neuropsychologie als
Wissenschaft
Die klinische Neuropsychologie als Wissenschaft untersucht
die Beziehungen, die zwischen Gehirn, Verhalten und Erleben bei Patienten
bestehen, die eine Schädigung oder Erkrankung des Gehirns erlitten haben. Dabei
wendet sie wissenschaftliche Methoden an, die darauf abzielen, die Effekte
bestimmter Wirk-Faktoren auf das Verhalten möglichst "sauber" oder
"rein" zu erfassen. Sie ist bestrebt andere Störfaktoren
auszuschließen.
In der klinischen Neuropsychologie werden etwa Fragen
untersucht "Welche Auswirkungen hat eine Schädigung des Gehirns im Bereich
des rechten Schläfenlappens auf die Sprache oder auf das Gedächtnis? In
wissenschaftlichen Untersuchungen an Patientengruppen werden die Effekte
aufaddiert und statistisch geprüft, um dann zu einer Beantwortung einer solchen
wissenschaftlichen Frage zu kommen. Solche allgemeine Erkenntnisse können
helfen, Vermutungen darüber anzustellen, welche Verhaltensfunktionen am
wahrscheinlichsten betroffen sind, wenn ein einzelner Patient eine Schädigung
des Gehirns im genannten Bereich hat.
Das individuelle neuropsychologische Störungsbild
Gehirne sind einerseits geprägt durch unsere einzigartige
biologische Ausstattung jedoch tragen sie auch die Spuren unserer individuellen
Lern- und Erfahrungs-Geschichte in sich. Sie stellen somit die biologische
Verankerung unserer psychischen Individualität dar. Alle Gehirne sind somit individuell,
sie sind alle Unikate.
Deshalb spielen am Zustandekommen des klinischen
Störungsbildes neben dem Schädigungs-Ort auf dem Gehirn noch zahlreiche andere
Faktoren eine Rolle, deren Bedeutung für den vorliegenden Einzelfall erst
herausgearbeitet werden müssen. So können Alter, Geschlecht, Händigkeit,
Temperament, Bildungsniveau, Lebensführung, Lebenseinstellung,
Lebensgeschichte, aktuelle Lebenskrisen
und andere vorbestehende psychische Erkrankungen für die Ausgestaltung einer
neuropsychologischen Störung von Bedeutung sein.
Die Arbeitsweise des Gehirns: die neuropsychologischen
Funktionen.
Gehirne üben ihre Funktionen dadurch aus, dass Nervenzellen
sich in Gruppen und Untergruppen selbst organisieren, die in einem großen und
äußerst komplexen System abgestimmt zusammenarbeiten.
Damit diese abgestimmte Zusammenarbeit zustande kommt, muss
eine Person die wesentlichen ("menschen-typischen") Lern-Erfahrungen
machen, also im normalen Umfang in einem Austausch mit seiner dinglichen und
sozialen Umgebung stehen. In einer gegebenen Lebenssituation treten die
neuropsychologischen Funktionen nicht einzeln oder isoliert auf, sondern in
einer für die Situationen typischen Konstellation oder einem typischen Muster.
Um diese Abstimmung auf der Ebene der Nervenzellen müssen wir uns nicht
kümmern. Diese vollzieht sich in Selbstorganisation. Das Ergebnis dieser Selbstorganisation
sind zusammenhängende Verhaltensmuster in denen das Denken (Kognition) und die
Gefühle (Emotionen) abgestimmt zusammenwirken (bio-psycho-soziales System).
Die selbstorganisierenden
gestalt- und mustererzeugenden Prozesse sind die Grundlagen, die heute als
verhaltenserzeugend betrachtet werden. Diese Prozesse werden durch die
Systemtheorie und die Synergetik beschrieben. Auch die Wirkungen von Therapien
können unter dem Aspekt der Strukturbildung neu verstanden werden. Die
Systemtheorie und Synergetik eröffnen somit die Aussicht auf eine allgemeine
Theorie der therapeutischen Wirkungen - unabhängig von den jeweiligen
Therapie-Schulen bzw. Therapie-Typen.
Auch im Falle einer Hirnschädigung bleibt die Eigenschaft
der Selbstorganisation der Hirnprozesse erhalten und es bilden sich auch im
Falle einer Hirnschädigung spontan wieder Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster
aus. Das kann man schon daran erkennen, dass sich die neuropsychologischen
Funktionen nach einer Hirnschädigung bis zu einem bestimmten Grad von selbst
wieder erholen. Nach einer solchen "Spontanremission" sind die
betroffenen Hirnfunktionen jedoch in ihrer Qualität verändert. Aufgrund der
Hirnschädigung treten Verhaltens-Defizite oder Verhaltens-Defekte auf, die als
Fehlanpassungen, Blockaden, Entwicklungs-Sackgassen oder Störungen in der
Verfügbarkeit beschrieben werden können. Im Falle eines hirngeschädigten
Patienten können die Hemmnisse gleichzeitig auf der neuronalen, der kognitiven
oder der affektiv-sozialen Ebene liegen. In der neuropsychologischen Therapie
etabliert der Patient eine neue Balance in seinem neuro-psycho-sozialen System.
Im Einklang mit seinen kognitiven und affektiven Möglichkeiten
"erfindet" er sich selbst neu und schafft für sich einen neuen
Lebensentwurf.
Neuropsychologische Therapie: die Theorie
Wenn man allgemein und schulübergreifend definieren möchte
was Psychotherapie ist, so kommt man zu abstrakt klingenden Formulierungen.
Psychotherapie wird im Rahmen der Systemtheorie gesehen als "Schaffen von
Bedingungen für die Möglichkeit von selbstorganisierten Ordnungs-Ordnungs-Übergängen
in bio-psycho-sozialen Systemen unter professionellen Rahmenbedingungen"
(Grawe, in Schiepek 1999). Auch die neuropsychologische Therapie ist eine
Psychotherapie. Jede Psychotherapie bringt demnach ein (menschliches
Verhaltens-) System aus seinem bisherigen Zustand in einen instabileren
(Übergangs-) Zustand, aus dem heraus es sich selbst neu ordnet.
Der Übergangszustand ist ein Zustand der Instabilität
in dem man noch nicht erkennen kann in welche Richtung das System sich
entwickeln wird. In dieser Phase treten Verhaltens-Fluktuationen mal in die
eine oder in die andere Richtung auf. "Subjektiv wird dies als
Unsicherheit erlebt, die sich abwechselnden Tendenzen nehmen die Form emotionaler
Turbulenzen an. Instabilitäten erfordern zusätzliche Energien. Der Wirkungsgrad
von Systemen diesseits der Ausprägung eines klaren Ordnungsparameters (=neue
Ordnung) ist niedrig, und tatsächlich sinkt auch die Leistungs- und
Konzentrationsfähigkeit von Individuen und Gruppen in derart instabilen
Phasen" (Schiepek, 1999).
Was den Ausschlag in die eine oder andere
Entwicklungsrichtung gibt, können scheinbar unbedeutende Übungen, Gespräche,
Erfahrungen, Ereignisse oder Interaktionen sein, die im nachhinein oft nicht
benannt werden können. Die neue Ordnung stellt einen qualitativen Wandel von
Verhaltens- und Erlebensmustern dar. In der Therapie werden die veränderungsstimulierenden
Bedingungen für einen qualitativen Wandel durch Erfolgserlebnisse und
Kompetenzerfahrung geschaffen. Auch bei Patienten mit Hirnschädigungen werden
sie auf der Basis einer affektiv-motivationalen Beziehung in der
neuropsychologischen Therapie vermittelt. In den traditionellen pathologie- und
defizitorientierten Vorstellungen über Psychotherapie bringt der Therapeut dem
Patienten das Heilende. Er gibt ihm etwas das er nicht hat, er baut das neue
Verhalten des Patienten auf, er modifiziert oder erweitert es. In der
systemischen Interpretation der Psychotherapie tritt die eigene Autorenschaft
des Patienten an seinem neuen Selbst, seine Autonomie und seine Ressourcen,
stärker in den Vordergrund.
Ambulante Neuropsychologische Therapie: die Praxis
Patienten die zu einer ambulanten neuropsychologischen
Therapie kommen haben meistens schon andere stationäre Reha-Phasen in
neurologischen Rehabilitationskliniken hinter sich. Dort haben sie schon einen
hohen Grad an lebenspraktischer Selbständigkeit erreicht. Viele kommen
selbständig in die Praxis, und können schon öffentliche Verkehrsmittel
benutzen. Andere werden von Angehörigen zur Therapie begleitet und anschließend
wieder abgeholt.
Während in den stationären Reha-Phasen die Wiederherstellung
der köperliche motorischen und sensorischen Basisfunktionen im Vordergrund standen verlagert sich in der ambulanten
neuropsychologischen Rehabilitation der Fokus auf die Wiedereingliederung in
das soziale Umfeld (Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz). Da nun auch die
Fortschritte der Funktionserholung - die zum Teil auch durch die Spontanremission
mitgetragen war - nicht mehr so schnell verlaufen, bildet sich langsam eine
Vorstellung davon heraus, auf welche verbleibenden Defizite es sich langfristig
einzustellen gilt.
Das Wechselspiel zwischen Funktionstherapie und
Psychotherapie
Bevor die Therapie
bestimmter Funktionsbereiche wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, oder Handlungssteuerung
beginnen kann, muss der Therapeut sich ein Bild über das vorliegende
individuelle Störungsbild verschaffen (s.o.) und evtl. hierzu noch eine
erforderliche neuropsychologische Diagnostik veranlassen (ca. 5h, siehe
neuropsychologische Diagnostik). Bei Patienten die vorher in einer
neurologischen Rehabilitationsklinik waren ist das in der Regel nicht
erforderlich. Sie wurden dort bereits ausführlich untersucht und das bestehende
Störungsbild ist bekannt.
Gemeinsam mit dem
Patient und den Angehörigen werden dann die nächsten Ziele der anstehenden
Behandlung besprochen. Nicht immer ist es so, dass der Patient in dem Bereich
Verbesserungen wünscht, wo er - nach den Ergebnissen der Diagnostik - am
stärksten gestört ist. Das hängt u. a. von der Selbstwahrnehmung des Patienten
ab, die in vielen Fällen beeinträchtigt ist. Auch Angehärige können aus dem
Alltag des Patienten, wesentliche zusätzliche behandlungsbedürftige Aspekte
einbringen.
Meistens widmet
sich die neuropsychologischen Therapie zunächst der Verbesserung der geistigen
Funktionen (Funktionstherapie). Sobald der Patient jedoch Fortschritte macht,
erkennt er eigene Fehler zunehmend besser und er beginnt wiederum über seine
Lebenssituation nachzudenken. Die Patienten fragen sich, Werde ich wieder so
sein können wie ich einmal war? Werde ich wieder der "Alte" sein
können? Sie setzen sich damit auseinander, wie sie sich selbst in ihren
Einschränkungen wieder annehmen und lieben können. Sie erfahren neue,
veränderte Reaktionen ihrer Partner und ihrer sozialen Umgebung auf ihre
Behinderungen und sie versuchen damit umzugehen.
Zur Therapie kommen
somit nicht Gehirne sondern Menschen, die neben den neuropsychologischen
Verbesserungen auch ihre psychische und soziale Wirklichkeit bewätigen müssen,
die ihnen oft genug große Schwierigkeiten bereitet. Die Rehabilitation
sollte auch die bereits vor der Schädigung bestehenden problematischen
psychischen Konstellationen umfassen können, weil aus ihrer Aufarbeitung neue
Lebensentwürfe erwachsen. Die Verbesserung der geistigen (kognitiven)
Funktionen in der neuropsychologischen Therapie geschieht daher immer unter
Anwendungsbedingungen: Sobald bestimmte geistige Prozesse möglich sind, werden
sie auch zur Lebensbewältigung eingesetzt. Neuropsychologische Therapie
vollzieht sich in einem Geflecht von psychischen und sozialen Motiven. Zwischen
der kognitiven Funktionstherapie und den psychotherapeutischen Anteilen
besteht in der neuropsychologischen Therapie ein wechselseitiges Spannungsverhältnis.
Phasen mit intensiver Funktionstherapie kännen sich mit Phasen mit
psychotherapeutischen Schwerpunkten abwechseln.
Biographie & Hirnschädigung
In vielen Fällen ereignet sich die Hirnschädigung zu einem bestimmten
Zeitpunkt in der Biographie eines Menschen. Häufig sind es Zeiten von Krisen
oder Zeiten der Belastung in denen sie sich ereignen und oft stehen sie in einer Beziehung zu
vorherbestehenden psychischen Konflikten. Diese führen wiederum zu einer verminderten
Selbstfürsorglichkeit, die sich in einem Verhalten äußern kann, das gewisse
Risiken für eine Hirnschädigung beinhaltet.
Ein riskantes Verhalten im Straßenverkehr oder beim Extremsport birgt
unmittelbar Gefahren für ein Schädel-Hirn Trauma. Solche Zusammenhänge sind
leicht nachvollziehbar. Aber auch jemand der sich fortgesetzt selbst
überfordert und sich dauerndem Stress aussetzt schwächt sein Immunsystem und
nimmt höhere Risiken für Infektionen in Kauf - auch für Infektionserkrankungen
des Gehirns. "Wer Sorgen hat, hat auch Likör" so heißt es bei Wilhelm
Busch. Substanzen die eine Wirkung auf unser Verhalten haben (=Drogen), sind
für Nervenzellen häufig schädlich. Daneben bringen sie zusätzliche indirekte
Risiken für Hirnschädigungen mit sich. So erhöht vermehrter Alkoholkonsum die
Blutungsneigung - auch für Blutungen im Gehirn. Manche Zusammenhänge sind so
alltäglich, dass uns der eigene Verhaltensanteil kaum noch auffällt. So z.B.
die Zusammenhänge zwischen Bewegungsmangel, Fehlernährung, Übergewicht und
Rauchen auf der einen Seite und Bluthochdruck, Gefäßinsult und Hirnschädigung
auf der anderen Seite.
Aus dieser Sicht
erscheint es gar nicht wünschenswert, dass ein Patient anstrebt wieder der
"Alte" zu sein - denn dieser "Alte" ist ja krank geworden.
Der Verlust
der prämorbiden Lebensform, der
durch die Hirnschädigung eingetreten ist muss betrauert und bewältigt werden.
Andererseits muss aber in der Rehabilitation auch eine Weg-Entwicklung
von den schädigenden Einflüssen der prämorbiden Lebensform und des prämorbiden
Selbst erfolgen.
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